Natalia Ginzburg: So ist es gewesen
Der literarische Durchbruch einer
italienischen Autorin oder von der Wahrheit der Liebe und des Lebens
Natalia
Ginzburg stößt bereits im ersten Absatz der ersten Seite ihres zweiten Romans So ist es gewesen (1947) in das Mark
ihrer Geschichte: „Ich habe ihm in die Augen geschossen.“, erzählt eine junge
Frau, die ihrem Mann Alberto noch bei seinen Reisevorbereitungen hilft, bevor
sie ihn ermorden wird und mit Regenmantel und Handschuhen in einen Park flüchtet,
um sich und ihr Leben zu sammeln. Klar ist damit nicht nur, dass es in diesem
kurzen Roman, der keine 100 Seiten umfasst, um Liebe, Ehe und Mord gehen wird,
sondern klar ist auch, dass dieser Roman es von der ersten Sekunde an versteht,
seinen Leser zu packen und eine Spannung zu erzeugen, die bis zur letzten Seite
anhalten wird. Völlig schnörkellos und realistisch erzählt dieser Roman alles,
was für die Geschichte notwendig ist, um die Wahrheit sowohl der Geschichte,
als auch der Ästhetik und Sprache dieses Romans zu ergründen. „Ich habe zu ihm
gesagt: »Sag mir die Wahrheit«, und er hat gesagt: »Welche Wahrheit?« und
zeichnete rasch etwas in sein Notizbuch.“ Mit diesem Satz eröffnet Ginzburg
ihren Roman und schickt damit zusammen mit dem Höhepunkt der Handlung die Moral
der Geschichte ihrem Roman voraus: Was ist Wahrheit und gibt es überhaupt eine
Wahrheit? Statt in weitschweifende philosophische Reflexionen oder abstrakte
Charakterzeichnungen abzudriften, bleibt die Erzählerin ganz nah dran an der
Geschichte, d.h. an der Realität und damit an der Wahrheit, für die das Leben
geopfert wird – das eigene und das des anderen.
Verità
va cercando, ch’è sí cara,
Come sa chi per lei vita rifiuta.
Um das zu
verstehen, erinnert die Erzählerin ihre Vergangenheit in der Gegenwart: „Ich
dachte darüber nach, was ich tun sollte. In Kürze würde ich zum
Polizeipräsidium gehen, sagte ich mir. Ich würde versuchen zu erklären, wie die
Dinge sich in etwa zugetragen hatten, aber es würde nicht leicht sein. Man muß
beim ersten Tag beginnen (…).“ Und das macht sie dann auch, sie beginnt mit dem
Kennenlernen ihres Mannes bei der Familie Gaudenzi, erzählt von ihren Eltern,
den Spaziergängen und Treffen mit Alberto, ihrem Liebesgeständnis, dem
Heiratsantrag, von Zweifeln und Widersprüchen, der Hochzeitsreise und der zunehmenden
Entfremdung, von Zweisamkeiten und Dreiecksgeschichten, vom Schweigen und von
verschwiegenen Affären, von der Geliebten ihres Mannes und der Geburt ihrer
gemeinsamen Tochter, von Aufbrüchen und Rückkehrbewegungen, von Trennungen und
Bindungen, von alten Zwängen und neuen Freiheiten, von unvorhersehbaren
Ereignissen und jenem Mord, auf den dieser Roman von der ersten Seite an
zusteuert.
Die 1916 in
Palermo geborene Natalia Ginzburg ist eine der wichtigsten italienischen Schriftsteller
des 20. Jahrhunderts. Ihr bekanntester Roman ist das Lessico familiare (Familienlexikon),
das 1963 erschien und autobiographische Züge enthält. Ihr Frühwerk, etwa in
eine ihrer ersten Erzählungen, Der Sommer
von 1946, ist noch der Ästhetik des italienischen Neorealismus verpflichtet,
bevor sie ihre ganz eigene realistische Sprache und ästhetische Nische in der
italienischen Nachkriegsliteratur findet, die zwar dem Realistischen
verpflichtet bleibt, sich jedoch nicht ohne weiteres einer Strömung zuordnen
lässt. Über ihre schriftstellerischen Anfänge berichtete Natalia Ginzburg
selbst: „Mir schien, als wollte ich den Neorealismus. Kurz gesagt,
ich wollte dem entfliehen, was die Literatur in den Jahren des Faschismus gewesen
war, also fern, distanziert. Weit weg von den Tatsachen des Lebens. Mir schien,
der Neorealismus bedeute, sich dem Leben anzunähern, ins Leben, in die
Wirklichkeit einzudringen.“1 Die Anfänge ihres Schreibens sind noch
von der ästhetischen und ethischen Abgrenzung zum Faschismus und von ihrer Ehe
mit Leone Ginzburg, einem antifaschistischen Widerstandskämpfer geprägt, nach
dessen Ermordung 1945 durch deutsche Soldaten in einem römischen Gefängnis Natalia
Ginzburg von Rom nach Turin zog. In Turin, wo sie ihre Kindheit verbracht
hatte, begann sie wenig später in einem der bedeutendsten Verlagshäuser Italiens,
dem Verlag Einaudi, zu arbeiten. Dort traf sie auf die geistige Elite des
Landes und der Nachkriegszeit: Italo Calvino oder etwa Cesare Pavese und Elio
Vittorini, die u.a. wichtigsten Autoren des italienischen Neorealismus. 1952
folgte die junge Autorin ihrem zweiten Ehemann, dem Anglistik-Professor Gabriele
Baldini, erneut nach Rom, bis sie gemeinsam 1959 nach London auswanderten, wo
sie auch ihr bekanntestes und vielleicht wichtigstes Werk verfasste, jenes Familienlexikon, für das sie den Premio
Strega erhielt. In diesem Werk brachte sie ihren realistischen Stil, den sie in
den fünfziger Jahren entwickelte, zur Vollendung. Sie selbst sagte über ihren
Roman: „Es zu schreiben war für mich genauso wie sprechen.“2 In
diesem Roman vermischen sich Schreiben und Leben vollständig und werden
familiärer Mikrokosmos, menschliche Erinnerung und Beobachtung bis aufs
äußerste entfaltet. Letztere ziehen sich wie ein roter Faden durch ihr gesamtes
Werk.
Der Kurzroman So ist
es gewesen (1947) markiert den Beginn dieses roten Fadens im Werk von Natalia
Ginzburg und ist dabei so stringent und konsequent erzählt, wie fast keines
ihrer nachfolgenden Werke mehr. Zurecht feierte Italo Calvino diesen Roman
enthusiastisch, der im Schatten des darauf folgenden Werkes in Vergessenheit
geraten zu sein scheint und den es unbedingt lohnt auf dieselbe Weise zu lesen
wie er geschrieben worden ist: unnachgiebig, zügig, spannend,
unmissverständlich und wahrhaftig.
Natalia Ginzburg:
So ist es gewesen,
Berlin: Wagenbach
Verlag 2008.
93 Seiten. 9,80€
Zitiert nach Albath (2010): Der Geist von Turin. S. 149.
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