Mit Ortheil unterwegs: „Rom erleben“
Hanns-Josef Ortheil: Rom, Eine Ekstase, Berlin:
Insel Verlag 2011.
Wer nach Italien reist, den zieht es früher oder
später nach Rom, der ewigen Stadt, die wie keine andere von der Spannung
zwischen Norden und Süden, zwischen Mythos und Realität, Vergangenheit und
Gegenwart lebt. Und dann träumen wir von einem Glas Wein, etwas Pasta, Pizza,
verwinkelten Gassen, dem Tiber, Piazza Navona und Sixtinischer Kapelle,
knatternden Motorini an der Piazza Vittorio Emanuelle und lauer Sommerluft am
Abend in Trastevere. Nicht nur einen Vorgeschmack, sondern genau diesen Genuss
und noch viel mehr schenkt uns Hanns-Josef Ortheil mit seinem 2011 im Insel Verlag
in Berlin erschienen Buch Rom. Er beschreibt nicht nur die Ekstasen Roms,
sondern zieht seine Leser so tief in die Erzählung hinein, dass diese selbst
beim Lesen römische Ekstasen erleben können. Dass es sich um vielmehr als um
einen klassischen Reiseführer handelt, offenbart bereits der Untertitel Eine
Ekstase.
|
vom Gestern und vom Heute, Bild: Friederike Römhild |
Ortheil fokussiert Rom als ein sinnliches Erlebnis,
einen Rausch, der alles vergessen lässt und von Menschen unterschiedlicher
Zeiten erlebt worden ist. Darunter zahlreiche Künstler, die mit ihren Werken
dazu beigetragen haben, dass die Sehnsucht nach Rom ungebrochen geblieben ist
und die Erwartungen einer Rom-Ekstase eher noch gestiegen sind. An der Ekstase
„Rom“ ändert folglich auch die globalisierte und virtuelle Gegenwart nichts,
für die jedes Geheimnis durch eine virtuelle Vorerfahrung bereits gelöst zu
sein scheint und jede Sehnsucht gar nicht erst aufkommen braucht, weil jeder
Ort in kürzester und zu jeder Zeit erreichbar ist. Nein, Rom ist und bleibt
eine ewige Sehnsucht und eine Ekstase für alle, die Italien lieben wie der
gebürtige Kölner Ortheil, der einige Jahren in Rom als Musikstudent, Pianist,
Stipendiat der Villa Massimo und als Reisender gelebt hat. Der heute in
Stuttgart lebende Professor für Kulturjournalismus Ortheil ist nicht nur
Italienliebhaber, sondern ein wahrer Rom-Kenner. Seine autobiographischen
Erfahrungen seit den späten sechziger Jahren stellt Ortheil allerdings nicht in
den Vordergrund, sondern vermengt sie anachronistisch mit der Erzählung
beispielsweise der Ankunft Goethes in Rom und seiner ersten Begegnung mit dem
Maler Johann Heinrich Tischbein, der Goethe später in der Campagna porträtieren
wird. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich auf der Ebene sinnlicher
Erfahrungen wie der des Essens. Der Leser bekommt z.B. die Gelegenheit sich an
den Mittagstisch der Locanda dell’Orso zu setzen, an dem Goethe bereits 1786
gesessen hat (Goethe reiste von 1786-1788 durch Italien) und an derselben
Stelle der Erzähler die heutige Enoteca Buccone betritt, eine 1969 eröffnete
Weinhandlung, in der es jene kleinen „primi piatti“ zur Weinverkostung gibt,
die der Leser als Rezept erhält. So vermischen sich historische Spuren mit
sinnlichen Erfahrungen in der Gegenwart und die Literaturgeschichte der
Italiensehnsucht deutscher Dichter mit modernen Biographien des 20.
Jahrhunderts. Es wird eine Nähe hergestellt, die aus dem Verlauf der
Weltgeschichte eine Dorfgeschichte macht und so ist auch die traditionelle
Küche der italienischen Metropole eigentlich eine ländliche. Das Ferne liegt
folglich so nah wie dieses Buch für den italienaffinen Leser.
„Künstlern ein Paradies anzubieten und zu sehen, wie
sie damit fertig werden“ (Ortheil, Rom, S. 156)
So wenig Goethes Italienische Reise (1813-1817) weder
eindeutig als autobiographischer Roman noch als Reisedokumentation eingestuft
werden kann, changiert auch Ortheils Buch zwischen verschiedenen Genres und
Erzählmodi. Es lässt sich weder von einem klassischen Reiseführer, noch von
einem Tagebuch oder einem Roman sprechen. Aufgenommen werden neben den Rezepten
auch Notizen, Bild- und Architekturbeschreibungen, Weinempfehlungen,
Geheimtipps und historische Berichte. Neben den unterschiedlichen textlichen
Merkmalen sticht die besondere Bildauswahl ins Auge. Die von seinen Kindern
Lotta und Lukas angefertigten Fotografien zeigen keine Illustrationen
historischer Baudenkmäler wie wir es aus Reiseführern kennen, auch keine
gewöhnlichen Karten zur Orientierung des Touristen auf seinen Tagesausflügen.
Die Abbildungen wollen anderes übermitteln: Die historische Karte des Piazza
del Popolo etwa zeigt die drei von ihr abgehenden Corsi, mit denen Ortheil drei
Möglichkeit in Rom „anzukommen“ beschreibt. Die Fotografien von Pinienbäumen,
Treppenaufgängen, Kuppelausschnitten, Brückenansichten des Tibers oder
Lebensmittelgeschäften erinnern nebensächliche Details und individuelle
Eindrücke. Keineswegs handelt es sich um zentralperspektivische Blicke auf die
zu erwartenden Bildmotive der Stadt Rom wie etwa den Petersdom. Text und Bild
korrespondieren hier ganz eng miteinander: beide ersetzen die touristische Perspektive
durch die Perspektive des Einheimischen und des Individualisten. Wir gehen wie
ein Römer, zumindest wie ein Rom-Kenner durch Rom, auch wenn wir selbst keiner
sind – das ist das besondere dieser ortheil‘schen Romdarstellung. Abgerundet
wird das Buch durch biographische Angaben zum Autor, einem Rezeptregister und
einem sehr informativen „Bücher-Menü“. Letzteres versammelt noch einmal alle in
den Kapiteln aufgerufenen Autoren und Werke und bietet damit auch einen
Überblick über die Italienwahrnehmung in den wichtigsten bzw. bekanntesten
Werken europäischer Literatur über Italien. Gerade also weil von allem ein
bisschen darin ist, erweist sich die Lektüre als so unterhaltsam, fließend und
leicht. Man nimmt das Buch in die Hand und gibt es nicht mehr her. Der Leser
wird in Bewegung gebracht, wird immer tiefer in die Stadt gezogen, wird auf
Reisen geschickt – und Reisende soll man bekanntlich nicht aufhalten.
Gleichermaßen unaufhaltsam sind die Gehenden in Ortheils Buch. Nicht nur folgt
der Erzähler Goethes Wegen, sondern er begleitet auch Vergils Aeneas, Wilhelm
Waiblinger, Stendhal, Jean Paul oder Thomas Mann. Waiblinger z.B. brach 1826
von Reutlingen nach Rom auf, verfasste Reisebilder, Skizzen, Gedichte und
Briefe, die von zahlreichen Rom-Ekstasen erzählen: vom Taumel und von der
Überwältigung, nicht durch das Außergewöhnliche, sondern das Alltägliche.
Stendhal schuf mit Promenade dans Rome (1829) kein trockenes, belehrendes
Reisebuch wie es bis dahin üblich war. Die römische Promenade, die er zum Ausgangspunkt
nahm, entsprach weder einem gewöhnlichen Spaziergang, einem „passeggiata“, noch
dem Flanieren wie es in der Moderne von Walter Benjamin, Franz Hessel oder
Joseph Roth beschrieben wurde. Der Promeneur, auf den sich auch Ortheil beruft,
ist nicht allein unterwegs. Er bewegt sich in kleinen Gruppen und auf
historischem Gelände. Ist er doch einmal allein unterwegs blickt er nach innen
statt nach außen. Er interessiert sich für das Außen nur so weit, insofern es
Ausdruck seiner Seele ist. Er unterscheidet sich damit ganz wesentlich von dem
flüchtigen, am Außen orientierten Gang des modernen Flaneurs. Der Leser von
Ortheils Rom, Eine Ekstase geht sowohl als Promeneur als auch als Flaneur durch
Rom. Der Autor schöpft die verschiedenen Modi des Gehens als Sehen und Erleben
von innen und außen erzählerisch vollständig aus. Dabei ist die römische
Promenade ein zugleich sprunghafter und allumschweifender Erzählmodus. Neben
dem reinen Wahrnehmen und Staunen wird die Umgebung abgetastet und ihre
Geschichte genau kartographiert. Nichts anderes macht Ortheil, wenn er jene
erste Begegnung zwischen Goethe und Tischbein schildert, während er die Enoteca
Buccone besucht oder den Gang des Aeneas als Vorläufer aller Rom-Ekstatiker
ermittelt. Der Rom-Ekstatiker entdeckt also nicht nur flüchtig ein Restaurant
oder ein Denkmal, sondern die Geschichten all jener vielen unterschiedlichen
Varianten von Restaurants, Straßen und Denkmäler, die Rom charakterisieren.
Vermittelt werden nicht nur Rezepte, sondern eine ganze Esskultur. In
Trastevere etwa wird die besonders dünne Pizza rasch verzehrt, um möglichst
schnell in das Leben der Gassen, von dem ein Sonett von Giacchino Belli
erzählt, zurückzukehren.
|
Im Rausch der Sinne: Rom-Ekstasen,
Bild: Friederike Römhild |
Die geschilderten Promenaden führen kreuz und quer
durch die Vergangenheit und Gegenwart. Zeit spielt in dieser Stadt, an der die
Moderne vorbeigegangen zu sein scheint, nur eine geringfügige Rolle, weshalb
der Autor mühelos zwischen der Antike, der Kaiserzeit, der Klassik und Romantik
sowie Gegenwart hin und her springt. Und so bleibt die römische Küche der
Kaiserzeit stilbildend für die römische Küche der Gegenwart. Rom lässt sich in
keine zeitgemäßen und räumlich fixen Koordinaten pressen. Dies zeigen
anschaulich die Spaziergänge zu verschiedenen Aussichtsplattformen: Rom ist
sowohl ein Miniaturbild bei der Abendpromenade auf dem Pincio als auch ein
Panoramabild bei der Morgenpromenade auf dem Gianicolo oder ein flackernder,
brüchiger 60er-Jahre-Film aus der Sicht vom Monumentale Nazionale a Vittorio
Emanuelle II auf der Piazza Venezia. Sowie die Jahrhunderte werden auch ganz
verschiedene Orte durchstreift: Plätze wie die Piazza Navona oder der Campo di
Fiori, Märkte wie z.B. in der Via Lamarmora, Markthallen in alten
Schlachthöfen, Gebäude wie das Pantheon, Museen wie das Museo die Roma, Kirchen
wie die Kirche Santa Maria oder der Petersdom, Enotheken, Bars, Osterien,
Pizzerien sowie Buchhandlungen und Antiquariate wie die Libreria di Cave.
Aufgespürt werden dabei die Spannungen zwischen Innen- und Außenraum. So
spazieren wir nicht einfach in das Pantheon hinein und werfen als erstes den
Blick in die Kuppel, den jeder übliche Tourist als erstes mit seiner Fotokamera
ansteuert. Nein, das Pantheon, das wir mit Ortheil erleben, lässt uns den
Kontrast erleben, den die Banalität und Unauffälligkeit der Außenfassade des
Pantheons erzeugt, misst man sie an der Mächtigkeit und Größe ihres Innenraums.
Ortheils Leser nähern sich dem Pantheon von außen und machen zuerst die nicht
erwartete Erfahrung des Unscheinbaren und Alltäglichen. Ebenso neuartig ist für
die Leser die Beobachtung des architektonischen Kontrasts zwischen einem
Palazzo und einer Villa. Während die Villa einen offenen, heiteren, geselligen
und Nähe erzeugenden Raum darstellt, kennzeichnet einen Palazzo seine
Verschlossenheit, seine ernste Distanziertheit zum Zwecke der Repräsentation.
Die römische Ekstase entsteht durch jeden kleinsten Winkel dieser Stadt, jeden
Zeitpartikel, jedes Detail, jede atmosphärische Beobachtung, jeden einzelnen
Schritt, den wir durch diese Stadt machen.
Wie der Flaneur F. in Ortheils Buch ist auch S. – der Stipendiat – eine
erfundene Figur, die durch die Reduktion des Namens auf den Anfangsbuchstaben
neutralisiert wird, aber dennoch in Korrespondenz zum Autor zu vermuten ist.
Der Promeneur Ortheil war selbst Stipendiat in der Villa Massimo (seine
dortigen Erlebnisse und Erfahrungen hat er in seinem neuesten Buch Rom, Villa
Massimo. Roman einer Institution (2015) niedergeschrieben). Zunächst erscheint
dieser Stipendiat von jenem Flaneur und Promeneur unterschieden, da er ein
absolut Fremder, ein Orientierungsloser, ein noch viel stärker Suchender ist.
Wiederum dem Flaneur F. ganz ähnlich greift aber auch S. zum MP3-Player und
macht aus Rom einen musikalischen Klangraum. Und da beide dieselbe Musik hören
von Respighi bis Gianmaria Testa verschmelzen diese beiden Typen plötzlich doch
miteinander und werden zu einer unterschiedlichen Bewegungsform ein und
derselben Person durch Rom. So schließt dieses Buch mit einem Stipendiaten und
seiner morgendlichen Lichterfahrung den Kreis zum ersten Kapitel, das mit dem
jungen Studenten der sechziger Jahre begann, den das Licht Roms in den frühen
Morgenstunden besonders geprägt hat. Es schließt sich damit auch der Kreis
zwischen dem jungen Studenten und dem reifen Stipendiaten. Zur Rom-Ekstase
gehört folglich ebenso wie die Sinnlichkeit des römischen Alltags die Reise zu
sich selbst, die Begegnung des Ich mit der eigenen Jugend – und genau diese
Sehnsucht nach Jugendlichkeit, diese erlebte Verjüngung hatte schon Goethe in
Rom erfasst und ekstatisch erlebt. Rom-Ekstasen, das ist das Erlebnis prallen
Lebens, eines hohen Genusses, des Vergessens der Heimat, der Sorgen und der
Rollenmuster, kurz das Erleben eines Alltagsparadieses. Rom – ein Geschenk und
ein Experiment für den, der sich auf seine Suche macht. So lebendig dieses Rom
also ist, so unbegreiflich wandelbar und unfassbar ist es auch. Erst dieser
Wandel des Lebens, diese anachronistische Verschiebung, dieses Changieren von
Vergangenheit und Gegenwart, Nah und Fern, dieses immer Neue im Uralten macht
es möglich jene Rom-Ekstasen auch als Ekstasen der eigenen Identität zu
erleben, von denen dieses Buch auch erzählt. Schluss? Nein. Mit Rom ist niemals
Schluss und so gibt es noch ein letztes Kapitel: Abschied von Rom. Goethe geht
hierfür zum Kolosseum und ins Kapitol, unternimmt allein eine Prozession, mit
der er die Toten beschwört und gnädig stimmt, um seine Rückkehr zu bewirken. Es
gibt viele Rituale, sich von Rom zu verabschieden: ein anderer ist, eine Münze
in den Trevi-Brunnen zu werfen, wieder ein anderer ist ein Spaziergang über die
leeren Plätze der Stadt um Mitternacht. Abschied von Rom gelingt, wenn Rom
einen nicht mehr loslässt, wenn der Abschied bereits den Vorsatz der Wiederkehr
enthält. Nur so ist der Schmerz der Trennung von dieser geliebten Stadt
überhaupt zu ertragen. Gehen, um zurückzukehren. Dieses etwa 175 Seiten starke
Buch bietet genügend Material und Gelegenheit für den Leser, um den
individuellen Kreislauf von Ankunft in und Abschied von Rom fortzusetzen und
römische Ekstasen zu erleben.
Hanns-Josef Ortheil: Rom, Eine Ekstase, Berlin: Insel Verlag
2011.
Labels: Ein Buch und eine Meinung, Startseite