Am 11. November 1943 ist die einundzwanzigjärhige
Margarete aus Bad Doberan in Mecklenburg mit ihrem Mann Gert, von dem sie ein
Kind erwartet, in der ewigen Stadt Rom angekommen, in der sie sich beide sicher
vor dem Zweiten Weltkrieg wähnen. Als sie mit Gert, der als evangelischer
Militärpfarrer in Rom tätig ist, das erste und letzte Mal durch Rom spazieren
geht, kommt plötzlich die Nachricht seines Abberufungsbefehls nach Nordafrika
(Tunis), wo er als Gefreiter, als Sanitäter, Fahrer, Schreiber und Telefonist
eingesetzt wird. Nun ist sie sicher in Rom, aber das erst Mal allein im Ausland
und von Sehnsucht und Sorge erfüllt. Das Buch erzählt von nur einem Tag, nein,
eigentlich nur einer Stunde, Ende Januar 1944, im Leben einer jungen Frau, die
hochschwanger einen Spaziergang durch Rom macht. Ihr Ausgangspunkt ist das Haus
der Diakonissen Kaiserwerther, in dem sie sich mit einer anderen Deutschen ein
Zimmer teilt, deren Verlobter in Australien interniert ist. Die Protagonistin
beginnt ihren Spaziergang um 15 Uhr und zielt auf die Via Sicilia, in der sie
in einer Kirche um 16 Uhr ein Konzert hören wird. Auf ihrem Spaziergang bewegt
sie sich jedoch nicht auf den von Römern und Touristen bevölkerten Straßen und
Plätzen. Die junge Frau meidet die Menschenmengen und Sehenswürdigkeiten, sie
mag die „Rom-Schwärmer“ (S. 60) nicht. Zugleich will sie nicht als Deutsche
auffallen.
Die Route, die die Protagonistin nimmt, lässt sich genau nachvollziehen und
lädt zu einem Spaziergang auf den Spuren einer jungen Deutschen am Ende des
Zweiten Weltkriegs ein, der eine ganz individuelle Perspektive auf Rom
freilegt: Die Protagonistin beginnt in der Via Alessandro Farnese in Richtung
Süden und geht bis zur Via Cola di Rienzo. Dort blickt sie in Richtung des
Petersplatzes und den Vatikan, kehrt ihm aber den Rücken zu und geht in
Richtung der Tiberbrücke und über die Ponte Regina Margherita weiter. Ihre
Fußwege werden erweitert durch verschiedene Blickrichtungen. Immer wieder
schaut die Protagonisten nach rechts und links, blickt über Brücken und in
Straßen, in denen sie im Laufe der vergangenen Woche schon war, die sie meidet
oder an die sie sich gerne erinnert. So schweift ihr Blick von der Ponte Regina
Margherita auf den Tiber in Richtung der Engelsbrücke, bevor sie in die Via di
Ferdinando Savoia einbiegt und schließlich vom Piazza del Popolo in die Via del
Babuino blickt, in der sie schon vier Mal gewesen ist, in dieser Glücks- und
Dankesstraße, während sie die Via del Corso lieber meidet.
Nachdem sie die Pinciotreppen hinaufgestiegen ist,
kann sie die Piazza del Popolo überblicken. Ihr Blick stößt auf den Obelisken
und ist weitreichend, bis zum Petersdom. Erneut perspektiviert sie den
Petersdom aus der Ferne. Diese Blickachse bricht sich jedoch an der Wartburg,
die sie die ganze Zeit vor Augen mit durch Rom trägt: die Wartburg als Symbol
für die Verlässlichkeit der Liebe und den Glauben und für das schöne
Deutschland auch als protestantisches Gegenstück zur Peterskirche (siehe Seite
49 und 54). Im Pincio-Park traut sie sich nicht zur Villa Borghese und umgeht
damit erneut einen zentralen Anziehungspunkt sowohl für die Römer als auch die
Touristen Roms. In der Belvedere Straße kommt sie an der Villa Medici und dem
Medici-Brunnen vorbei und erneut geht der Blick in Richtung Petersdom. Der
Blick scheint damit viel weitere Strecken zu hinterlassen als sie selbst, die
jedoch keinen Moment still zu stehen scheint, auch nicht als sie an der Trinità
dei Monti in Richtung Spanische Treppe schaut, einem weiteren touristischen
Anziehungspunkt, ebenso wie auf einen der zwölf Obelisken Roms. Nachdem sie
durch die Via Sistina, Via Crispi und Via degli Artisti gegangen ist, weiß sie
für einen Moment nicht, ob sie rechts oder links gehen soll. Sie entscheidet
sich dafür, links die Straße hinauf in die Via Ludovisi zu laufen, um dann die
Via Veneto zu überqueren, um schließlich in die Via Sicilia einbiegen zu
können. Hier endet ihr Spaziergang. Bevor sie in die Kirche eintritt, in der um
16 Uhr ein Konzert beginnt, wirft sie einen letzten Blick zurück in die Via
Veneto, diesmal nicht Richtung Petersdom, sondern Richtung Afrika, wo ihr
Geliebter Gert, der Vater ihres Kindes dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt ist.
Für den Abend plant sie, einen langen, langen Brief an Gert zu schreiben.
Als das Konzert beginnt, tasten ihre Augen Fenster, Mosaike, Reliefs und
Statuen ab. Orgel, Cello, Chor und Gesang, Johann Sebastian Bach und Joseph
Haydn lassen ihre Sehnsucht nach Gert ins Unermessliche steigen und doch können
wir lesen: „ja, dies war eine schöne Stunde“ (siehe Seite 112).
Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit, vielleicht auch zwei oder drei und nehmen Sie
dieses wunderbare Buch zur Hand, das zart und leise, gefühlvoll, aber alles andere
als kitschig, vielmehr einfühlsam und sensibel den Weg einer jungen Frau durch
Rom verfolgt, einen Spaziergang, der zu einer Prüfung des Lebens wird, zu einem
Gedankengang ohne Punkt und Komma, einem Denken, dass sich im Gehen abbildet.
Die Erzählung besteht aus einem einzigen Satz, der durch seine Unterteilung in
Abschnitte rhythmisiert wird. Es entsteht ein Fluss der Sprache analog zum
Gehen, Schauen und Denken. Die Spiegelungen von Katholizismus und
Protestantismus, Petersdom und Wartburg, von Angst und Hoffnung, Krieg und
Frieden im Gehen und Schauen werden von Zitaten aus Bibel, Kirchenliedern und
Kriegsberichten, Erinnerungen an Gerts Kommentare, Ansichten und
kunsthistorischen Betrachtungen durchsetzt, schleusen das Denken in das Gehen
ein, machen aus der Sehnsucht eine Bewegung, eine körperliche, seelische und
geistige Reflexion. Man kann gar nicht anders, als mitgehen. Und vermutlich
geht es Ihnen dann wie mir und Sie werden nach der Lektüre sagen: „ja, dies war
eine schöne Stunde“.
Friedrich Christian Delius: Bildnis der Mutter als junge Frau,
Berlin: Rowohlt 2006.